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Sascha Lobo

Selbstständigkeit Der deutsche Sozialstaat ist festanstellungssüchtig

Sascha Lobo
Eine Kolumne von Sascha Lobo
Die haarsträubende Ausschreibung eines Jobcenters in Kaiserslautern offenbart die typisch deutsche Ablehnung der Selbstständigkeit. Auch die Gesetzeslage passt dazu – und muss geändert werden.
Agentur für Arbeit und Jobcenter: »Insgesamt ist verstärkt auf die negativen Seiten der Selbständigkeit einzugehen«

Agentur für Arbeit und Jobcenter: »Insgesamt ist verstärkt auf die negativen Seiten der Selbständigkeit einzugehen«

Foto: Jan Woitas/ dpa

Ein Jobcenter in Kaiserslautern sucht Fachleute für Weiterbildungmaßnahmen zur Eingliederung in den deutschen Arbeitsmarkt »für Menschen mit hauptsächlich migrationsbedingten Hemmnissen«. So weit, so gut.

Ziel der Maßnahmen ist die erfolgreiche »Vermittlung und anschließende Stabilisierung der versicherungspflichtigen Beschäftigung, sowie Aufklärung über Selbständigkeit in Deutschland«. Das ist natürlich großartig, weil die Digitalisierung und eigentlich das ganze 21. Jahrhundert mit seinen Errungenschaften und Problemen neue Arbeitsformen, neue Flexibilität und neue Denkweisen erfordern.

Das Jobcenter Kaiserslautern hat dafür eine Ausschreibung veröffentlicht . Sie besteht aus zwölf PDFs mit teilweise über zwanzig Seiten sowie einer AIDF-Datei, eine Spezialdatei zur Öffnung eines Java-basierten Ausschreibungstools einer Privatfirma. Die Dokumente sind inzwischen in der vierten Version veröffentlicht, alle sind immer noch online, sodass ein Konvolut von jetzt zweiundfünfzig Dateien die Ausschreibung samt ihrer Geschichte umreißt. Das ist vorteilhaft, so wird man bei der Betrachtung bereits auf die deutsche Arbeitsbürokratie eingestimmt. Und die birgt, versteckt auf Seite 21 von 23 im Dokument Vergabeunterlagen/Version3/B_Leistungsbeschreibung_Stand_06.07.2022.pdf , eine granatenhafte Amtszumutung der Sonderklasse. Diese Zumutung betrifft in erster Linie Selbstständige, in zweiter Linie aber das ganze Land samt der kommenden Generationen. Und das ist leider keine Übertreibung. Denn im Abschnitt »Inhalte der Maßnahme und deren Qualitätsstandards« hat das Jobcenter Kaiserslautern formuliert:

»Die Selbständigkeit als Alternative zu einem regulären Arbeitsverhältnis soll während der Maßnahme sehr kritisch betrachtet werden. … Hierbei sollen die Nachteile der Selbständigkeit deutlich hervorgehoben werden … Insgesamt ist verstärkt auf die negativen Seiten der Selbständigkeit einzugehen. Ggfs. können während der Maßnahme zur Verdeutlichung der Nachteile Gastredner hinzugezogen werden, die von ihren negativen Erfahrungen mit der Selbständigkeit berichten.«

Hier das vollständige Dokument

Wäre das eine einzelne, missglückte (und inzwischen geänderte) Passage, könnte man immer noch empört sein. Man könnte über einen eventuellen chauvinistischen oder gar rassistischen Unterton diskutieren, der migrantischen Personen prinzipiell die Selbstständigkeit madig machen will. Leider aber ist das nicht bloß eine bestürzende Formulierung, zum Glück entdeckt von der unternehmerischen Aktivistin Catharina Bruns . Es handelt sich vielmehr um einen Moment, in dem eine selten unverklausuliert geäußerte, aber allgegenwärtige deutsche Haltung offenbar wird: die Ablehnung der Selbstständigkeit durch weite Teile des Staatsapparats und auch eines Teils der Öffentlichkeit.

Deutschland ist das angestellteste Land der Welt, jedenfalls, was die Geisteshaltung angeht. Zur regelrechten Verachtung der Selbstständigen durch Teile der Politik und der Verwaltung kommen die verschiedenen politischen Ablehnungserzählungen. Konservative sehen oft nur in erfolgreichen Selbstständigen wertvolle Mitglieder der Gesellschaft, Linke bringen oft genug Verächtlichkeit und Misstrauen gegen unternehmerisches Handeln mit. Als selbstständige Person kann man ohne größere Schwierigkeiten gleichzeitig von denen einen als Schnorrer und von den anderen als Ausbeuter gebrandmarkt werden. Selbstständigkeit und erst recht Soloselbständigkeit erscheint zu vielen Leuten in Deutschland immer noch als irgendwie unseriös oder gar als Faulenzertum. Und wer öffentlich zugibt, als selbstständige Person auch mal schwierige Phasen gehabt zu haben, wird zuverlässig mit Häme überschüttet.

Deshalb ist die Abscheu des erwähnten Jobcenters vor der Selbstständigkeit besonders toxisch: Einerseits spiegelt sie eine tatsächlich häufige Haltung in der Administration. Und andererseits wirkt sie auch noch als Ablehnungsmultiplikator. Aus Sicht eines Jobcenters unter dem Dach der Bundesagentur für Arbeit ist diese Haltung zwar grundzynisch und anmaßend, aber irgendwie folgerichtig: Deutschland könnte sich gar nicht leisten, dass zu viele Menschen selbstständig arbeiten. Dann würde nämlich das Sozialsystem, aufgebaut auf Eckrentnern und sozialversicherungspflichtigem Beschäftigungsgetöse, komplett detonieren. Das ist leider die große ideologische Motivation, die die meisten politischen Lippenbekenntnisse für die Selbstständigkeit unglaubwürdig macht: Der deutsche Sozialstaat ist festanstellungssüchtig.

Die Folgen hat man schon während der Pandemie erkennen können, wo insbesondere Soloselbständige in so vielen Bereichen geradezu lächerlich behandelt wurden, während viele Großunternehmen per Kurzarbeit solide durch die Pandemie getragen wurden. Aber auch die Gesetzeslage ist in so vielen Facetten schlicht selbstständigenfeindlich.

Es ist zum Beispiel im Jahr 2022 noch immer eine wirtschaftliche Katastrophe, wenn man als selbstständige Person schwanger wird. Die Tischlermeisterin Johanna Röh stand im Herbst 2021 vor genau dieser Situation  und wäre ohne familiäre Hilfe wohl in die Insolvenz gerutscht. Deshalb hat sie eine E-Petition auf den Weg gebracht , in der gefordert wird, Selbstständigkeit und Schwangerschaft endlich menschenwürdig zu gestalten. Der Gesetzgeber hat sich zum Beispiel zum Schutz von Gebärenden und deren Kindern den Mutterschutz samt Mutterschaftsurlaub ausgedacht – samt hundertprozentiger Nettolohnfortzahlung sechs Wochen vor und acht Wochen nach der Geburt zumindest für gesetzlich versicherte Arbeitnehmerinnen. Außer für Selbstständige, für die gibt es keinen Mutterschutz oder »Urlaub« und natürlich auch keine Fortzahlungen. Privat versicherte Selbstständige bekommen in der Regel nicht einmal Mutterschaftsgeld. Aber auch gesetzlich versicherte Selbstständige bekommen es nur dann, wenn sie einen besonderen Tarif abgeschlossen haben. So geht es weiter und weiter, man darf sich gar nicht zu intensiv damit beschäftigen, sonst fragt man sich, wie Selbstständige überhaupt bisher Kinder bekommen und warum alleinstehende selbstständige Mütter nicht schon längst alles angezündet haben.

Der deutsche Staat muss seine im Kern antiselbstständige, radikal festanstellungsfixierte Arbeitsideologie endlich und umfassend abschaffen. Die Festanstellung darf nicht mehr als alternativlose Arbeitsform mit einzelnen selbstständigen Ausreißern betrachtet werden. Selbstständige dürfen nicht länger diskriminiert und verhöhnt werden. Das oben skizzierte Jobcenter-Debakel zeigt einmal mehr, dass diese Forderungen nicht nur gesetzlich, sondern auch in den Köpfen der Gesellschaft verankert werden müssen. Und notwendig ist das, weil sich durch die digitale Vernetzung die Arbeit selbst massiv verändert hat und noch weiter verändert. Sie wird im Durchschnitt wissensbasierter, kollaborativer, dialogischer, schneller und effizienter. Das erfordert viel mehr Flexibilität, Innovationsorientierung, Lernbereitschaft und unternehmerisches Denken.

Nebenbei können nur so, mit dem positiven Fokus auf Selbstständigkeit und Gründungsgeist, auch die Neugründungen entstehen, die am Anfang ganz klein sind und irgendwann den Kontinent ernähren. Und deshalb ist Selbstständigkeit, insbesondere in Netzwerken, verbunden mit Mischformen aus Festanstellung und Selbstständigkeit, die Arbeitsform der Zukunft. Eigentlich schon der Gegenwart, aber die braucht in Deutschland ja immer etwas länger als woanders. Denn Deutschland kann so reich sein, wie es will – das mit Abstand größte deutsche Vermögen bleibt das Beharrungsvermögen.

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